Samstag, Oktober 29, 2011

Schöne neue Zeit


Es ist eine traurige, noch nie so brutal und schonungslos offenbarte Wirklichkeit. Deutschland verarmt. Der Trend ist kaum mehr auf zu halten, kaum umkehrbar und doch mag es noch einen Funken, ein kleines unscheinbares Fünkchen Hoffnung in der Dunkelheit der schwindenden Zeit geben. Auf dass die sich anbahnende alles zerstörende Katastrophe kurz vor dem ultimativen Zusammenbruch unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wie wir sie kennen doch noch gestoppt werden kann.
Bevor unsere Gesellschaft sozusagen im kollektiven Burnout verglüht. Sich der Armut, der absoluten Zeitlosigkeit ergibt und unterwirft.
Wer jetzt anfängt, den Helenen die Schuld zu geben oder der Masse unentschlossener und wankelmütiger Politiker, mag enttäuscht sein.


Nein. Keineswegs. So einfach ist es leider nicht. Die Wirklichkeit ist viel grausamer, unheimlicher und vor allem nicht greifbar. Schlummert lauernd wie ein Ungeheuer in teils unbewussten Tiefen. Die Armut lauert überall, im Verborgenen, in den dunklen Winkeln unserer Seele. Da wo wir sie nicht vermuten. Und gleichzeitig überall und offensichtlich. Und es gibt nicht den einen Schuldigen, den einen, den wir fassen und verurteilen könnten. Sondern es sind die Heerscharen der dunklen Mächte, die uns im Düsteren unerkannt auflauern. Ebenso aber auch im hellen Licht, ohne dass wir ihrer zerstörerischen Kraft Einhalt gebieten könnten.

Kennen sie Momo. Michael Endes prophetisches Werk über die Macht der Zeit. Es ist Wirklichkeit geworden. Die Schwarzen Herren, die Zeitdiebe sind in Deutschland eingefallen und berauben uns unseres wichtigsten Gutes. Der Zeit.

Sind wir ehrlich. Wer kennt das nicht. Die Zeit zerfließt einem unter den Fingernägeln, löst sich unaufhaltsam auf zu einem flüchtigen Nichts. Wird zur Mangelware und die Zeitnot bestimmt unser künftiges Schicksal. Nicht der Hunger, der Durst, der Mangel an schnödem Mammon ist es, der so zerstörerische Kräfte wirken lässt, sondern die sich stetig verflüchtende, nicht mehr nachholbare Zeit. Für immer verloren im Gefüge der Historie. Die Schwarzen Herren, Momos Zeitdiebe haben längst ihr fürchterliches, zerstörerisches Werk begonnen.

Am schlimmsten trifft es dabei die schwachen und wehrlosen unserer Gesellschaft, die Kinder. In ihrer Zeit-Not gehorchen sie den gnadenlosen Gesetzen des Multitasking. Hausaufgaben, Nägel lackieren, Fernsehen und Simsen mit den MP3-Stöpseln im Ohr parallel. Während der Geburtstagsfeier oder des aufgezwungenen Gottesdienstes tippen sie heimlich unter den Bänken im verzweifelten Versuch, den Anschluss an die Facebookgemeinde aufrecht zu erhalten. Selbst das persönliche Gespräch unter Freunden, zugegebenermaßen selten geworden, vermag nicht den Druck auf die Jugend bzw. die Tasten des Handys zu stoppen. Facebook, einer der Götter unserer Neuzeit. Multitasking, die einzige Chance der Lebensbewältigung in Zeiten des Mangels an Zeit?
Während sie knurrenden Magens auf den Vater warten, der derweil im Discounter vor der Tiefkühltruhe harrt und per Handy den Kontakt mit eben jenem Kinde sucht, um im gemeinsamen Kampf der schier unendlichen Vielfalt der Sorten Herr zu werden. Um im Anschluss per Scanner-App die ultimativ-billige Pizza Furiosa zu finden und per Google den Weg dorthin. Nichts ist mehr wie es früher war. Die gute alte Zeit, wo ist die Zeit bloß verblieben.

Und am Ziel angelangt dann die Schlange an der Kasse. Und der Rentner, der seine Geldbörse ausgeschüttet hat, um jeden Cent einzeln wendend passend seine Schuld zu begleichen, derweil die Kassiererin abgestumpft den Tönen aus ihren Ohrstöpseln lauschend ihre lackierten Fingernägel betrachtet oder nervös zerkaut in unterdrückter Wut. Und das Knurren in der Warteschlange beständig anschwillt bis zum furiosen Finale. Und der nächste zieht den Packen Geldkarten hervor, sucht wie in Trance die richtige und muss nun in endlos scheinender Pein die ebenso endlos scheinende Pin eintippen . Während die ersten in der folgenden Reihe unter dem Druck des Zeitdiktats dem Kreislaufkollabs nahe sind.
Doch jetzt mag es wieder einen winzigen Moment der Hoffnung geben. Eine gewaltige Waffe im Kampf gegen die Herren der Zeit. So derzeit in einem kurzen, zeitsparenden Radiobericht offenbart und auch im WWW.
Vorbei die Zeit, in denen die Schwarzen Herren über unser Leben bestimmen durften. Keine Warteschlangen mehr, keine sich verflüchtende Zeit, während der schier endlos anmutenden Zeit der PIN.Eingabe an Discounter-Kassen.
Hallejulla, der Funk-Chip soll eingeführt werden. Und uns erretten. Bezahlen per Funkkontakt. Ein einfaches Wedeln vor dem Scanner mag ausreichend erscheinen. Eine völlig neue Leichtigkeit des Seins erwartet den geplagten Menschen. Ein besseres Leben in der Hohezeit des Konsums, der Verschwendung kostbarer Ressourcen und Zeit. Bis zu 25% Zeitersparnis gegenüber der Barzahlung. Ein Traum wird wahr.
Zugegeben. Nur ein kleiner Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft ohne Zeit-Armut.
Und es geht ja vorerst nur um Beträge im Peanuts-Bereich. Aber wir sehen den Beginn einer neuen Ära. An deren Ende vielleicht der unter die Haut implantierte Einkaufschip -neben den vielen anderen- stehen könnte. Traumhaft: Bezahlen vollautomatisch ohne Zeitverschwendung. Solange uns die Griechen noch was zum Einkaufen übrig lassen. Oder die vielen Verkäuferinnen noch ihren Arbeitsplatz haben.
Hallejullah. Welch köstliche Zeitersparnis wird uns gepriesen. Es mag dem einzelnen anheim gestellt sein sich zu errechnen, wie viel Zeit er bisher verschwendet hat mit dem Warten an Kassen und Automaten, dem Eingeben kaum zu merkender PINs. Und was er künftig mit der so zahlreich gewonnen Zeit anfangen mag. Welches der 280.000 Apps auf seinem Minicomputer er damit nun befriedigen kann. Welche Serien er im Assi-TV nun ersatzweise verfolgen wird. Wie viel Zeit er mit den netten Damen oder Bandansagen in den Warteschleifen unserer Welt verbringen darf. Hallejulla.
Gott sei gepriesen. Gepriesen sei die Bankenwelt. Es lebe der Funkchip und der ewig währende Fortschritt. Und natürlich der Funkkontakt. Auf das er nimmer mehr abbrechen möge im unpassenden Moment.
Hallejullah.

1 Kommentar:

lustige Bilder hat gesagt…

So einen Schutzengel will ich aber nicht haben...womöglich bin ich dann tatsächlich schneller unten ... :D

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